Stück für Stück zum Big Picture

11. August 2022. Es ist Nacht in Nuglar, einem Dorf im nordöstlichsten Zipfel des Solothurner Juras. Die Strassen sind ruhig. Plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. Ein Geldautomat explodiert. Die Täter sind schnell und innerhalb weniger Minuten mit der Beute verschwunden. Es ist eine von vielen Geldautomaten-Sprengungen in diesem Jahr. Und die Ermittlerinnen am Tatort wissen schon jetzt: Es wird nicht die letzte gewesen sein.

In den Trümmern suchen sie nach Spuren: Womit wurde der Geldautomat gesprengt – Sprengstoff? Gas? Welches Geldautomaten-Modell war es? Die Ermittler sichten die Bilder der Überwachungskameras: Wie gingen die Täter vor? Wie viele waren es? Wie sahen sie aus? Wie flüchteten sie? Wohin? Und weiter: Wie hoch ist die erbeutete Summe? Wurde der Geldautomat erst kürzlich befüllt? Gab es schon andere Angriffe in der Region? Sind Zusammenhänge erkennbar?

Stück für Stück setzen die Ermittlerinnen das Puzzle dieses Angriffs zusammen. Und wie bei jedem schwierigen Puzzle gilt: Man braucht mindestens eine Ecke und ein Stück vom Himmel, um sich zu orientieren. In diesem Fall: Die Täter haben Sprengstoff verwendet und sind auf einem Motorrad geflüchtet. Eine Parallele zu einigen anderen Geldautomaten-Sprengungen in diesem Jahr – ein Muster. Die gleichen Täter?

«Die Lage bestimmt den Auftrag» – eine gängige Redensart der Polizei, aber keine leere Phrase. Die polizeiliche Lage ist ein dynamisches Instrument. Sie entsteht, indem alle verfügbaren Informationen systematisch gesammelt, analysiert und bewertet werden. Auf der Grundlage dieses Lagebildes kann die Polizei eine effektive Strategie zur Bekämpfung dieser Art der Schwerstkriminalität entwickeln. Ohne Informationen gibt es kein Lagebild, ohne Lagebild ist die Polizei blind und setzt ihre Mittel nicht wirksam ein.

Hier kommt fedpol ins Spiel. Als Informationsdrehscheibe analysieren wir die verfügbaren Informationen, tauschen diese mit Partnerbehörden aus, erstellen daraus ein Lagebild und koordinieren als Gerichtspolizei des Bundes die Ermittlungen im Auftrag der Bundesanwaltschaft. Das Lagebild wird wiederum mit den kantonalen und ausländischen Strafverfolgungsbehörden geteilt. Wenn die Polizei weiss, was die Polizei weiss, kann sie wirksam handeln und die Täter ermitteln.

Es gibt nicht nur eine Lage. Polizeiliche Lagen sind vielfältig: Die erwähnten Geldautomaten-Sprengungen. Religiöse oder politische gewaltextremistische Radikalisierung und terroristisch motivierte Taten. Drohungen gegen Bundesrätinnen und Bunderäte. International organisierte Drogenhändler mit schier unbegrenzten finanziellen Mitteln. Ein Messengerdienst für Kriminelle, der ungeahnte Ausmasse der organisierten Kriminalität in der Schweiz offenlegt. Dies und mehr prägte unser Jahr 2022.

Diverse Puzzleteile sammeln sich an. Sie zusammenzusetzen, braucht Ressourcen. In der Polizeiwelt ein knappes Gut. Nur wer die Lage kennt, kann Ressourcen gezielt und wirkungsvoll einsetzen; sprich, das Puzzle systematisch und effizient zusammenstellen. Und wer weiss: Vielleicht zeigt sich morgen, dass das Puzzle, wie es sich uns heute präsentiert, nur ein Teil eines anderen «Big Picture» ist. Dann bestimmt diese neue Lage den Auftrag. Unseren Auftrag.

Unser Jahresbericht zeigt einen Teil der polizeilichen Lage 2022. Tauchen Sie ein – ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!

Nicoletta della Valle, Direktorin